1994/95
Bezirke

Anstandslos
von Barbara Frischmuth

Uraufführung

Premiere 23. November 1994

Milos: Peter Uray
Gerda Bauer: Hertha Schell
Jana: Judith Keller
Himmelreich(Engel): Fritz Holzer
Engelrahm(Engel): Ronald Seboth
Mutti: Renate Olarova
Adnan: Wolf Dähne

Inszenierung: Michael Gampe
Bühne: Andrea Bernd
Kostüme: Christine Böhm / Andrea Bernd
Musik: Uli Soyka

Es entsteht ein hintergründiges Spiel, eine Paraphrase über Einsamkeit, Fremdsein, Altem und Wertverlust. Das Stück rechnet auf eigene Weise mit dem spätkapitalistischen Konsumwahnsinn ah und zeigt Abgründe und Schattenseiten: tragikomisch, kritisch, bitter. Tragikomisch ist ein Attribut, das die Autorin selbst im Zusammenhang mit ihrem Stück besonders hervorhebt: skurril beleuchtet sie die Nöte ihrer Handlungsträger, liebevoll, ironisch. „Anstandslos“ handelt von Engeln und Menschen, vom Europa der Neunziger Jahre. mit offenen Grenzen und inneren Problemen: Endzeit jetzt. im Himmel und auf Erden. Was geschieht: Zwei Engel, die sich keineswegs so rein und tugendsam betragen. wie man es erwarten würde, beobachten, ein wenig gelangweilt. die Irdischen. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt Adnan, einem türkischen Zeitungsverkäufer, der in einem Haus lebt, in dem. Wand an Wand, nur Alleinstehende wohnen. So auch Milos. ein älterer, ehemaliger Ostblock-Flüchtling und Gerda, die nicht mehr junge Angestellte eines Pornoversands. Die beiden Singles kennen sich zwar nicht persönlich, dennoch sind die kleinen Eigenhei-ten dem jeweils anderen sehr vertraut: die dünnen Wohnungswände bringen ungewollt Verlust der Anonymität. Gerda leidet unter Milos fiktivem Dialog mit seinem abwesenden Schwager. Milos unter Gerdas Selbstgesprächen. Die Barrieren der krampfhaft aufrecht erhaltenen und eigentlich gar nicht so sehr gewünschten Abgrenzung fallen durch die junge Jana. die ebenfalls aus dem Ostblock kommt und bei Gerda vorübergehend wohnen wird. Jana durchbricht die Einsamkeiten. Überraschung bringt der Besuch zweier Engel. die ihr eine geheime Botschaft übermitteln wollen. Gerda widerfährt ungeahnte Himmelsmacht. Der Besuch der Engel hat sich bezahlt gemacht.
In diesem Stück verschmelzen alle Ebenen. reale und surreale, und dienen der Kritik: das gegenwärtige System von Konsumzwang und Konsumgier besehen Isolation. Verlorenheit, Verzweiflung. Der Mensch als Mensch wird reduziert. Verständlich, daß eine solche Welt nicht einmal ein positiv bestimmtes Jenseits erhalten kann. Die Vermarktung traditioneller Werte kennt kein Tabu.

 
Pressestimmen

Die Aufführung des von Barbara Frischmuths anlässlich der Ostgrenzen-Öffnung geschriebenen Stückes kommt um Jahre zu spät daher und wirkt als zeitgeschichtliche Momentaufnahme wie Schnee von gestern. Zur Weihnachtszeit sitzen die beiden Hauptdarsteller in ihren Single-Garconnieren – Wand an Wand. Langatmig walzen die Pornoversand-Angestellte Gerda und der gealterte Flüchtling Milos ihre Sorgen vor dem Publikum aus. Auch die Auftritte der gar nicht lieben Engel und der neu angekommenen Emigrantin Jana bringen keinen Schwung in die Handlung. Erstere wirken willenlos, letztere bekommt zu wenig Spielraum, um die tapfere Widerstandskämpferin mit trister Vergangenheit - die Frischmuth eigentlich in ihr gesehen hat - zu geben.
Kurier

Regisseur Michael Gampe hat sich bemüht, das nicht immer flüssige Drama im Gang zu halten. Das Ergebnis: eine effektvolle Inszenierung mit anklingendem Zaubermärchen.
Hertha Schell gelingt es, der verbitterten Gerda, die ihr Geld mit dem Verpacken von Sex-Artikeln verdient, plastische Konturen zu verleihen. Mehr als einen heimatlosen Emigranten kehrt Peter Uray allerdings den schrulligen Witwer hervor.
Auch die übrigen Darsteller sorgen für eine ordentliche Aufführung, die jedoch harmlos brav daher kommt und wenig Geheimnis hat.
Presse

Ein anonymes Wiener Wohnhaus mit papierdünnen Wänden wird in Michael Gampes Inszenierung zur Schaubude. Hertha Schell als Gerda, die im Sexshop-Versand arbeitet, zeigt Resignation mit ein paar Spritzern Bosheit, Peter Uray legt den alten Asylanten Milos als einen von seinem Trauma gekennzeichneten Menschen an und Judith Keller erscheint als Kind der neuen Ära umso unbekümmerter.
Die Engel in Gestalt zweier merkwürdiger, geflügelter Herren sind Ronald Seboth als überirdischer Vorstadtcasanova und Fritz Holzer mit dem Phlegma eines Prosekturdieners.
Wiener Zeitung

Produktionen A