1997/98
Haupthaus |
Geschichten aus dem Wiener Wald Premiere 14. Juni 1998 Alfred: Fritz Hammel Inszenierung: Michael Gruner In seinem zentralen Stück hat Horváth die Wiener Kleinbürger zu Figuren der Weltliteratur gemacht. Er hat die Atmosphäre der Vorstadt bis in die kleinsten Randfiguren gezeichnet wie einer, der sie liebt, und doch hat er nichts beschönigt. Er ist ihr schärfster Kritiker. Hinter der Eleganz, der Heurigenseligkeit, dem Gentlemancharme und den Beteuerungen der Liebe entdeckt er das Nichts, den Abgrund, den die Geschichte in den Menschen aufgerissen hat. Wie kein anderer hat er die Sprache in ihrer Maskenhaftigkeit dargestellt und gezeigt, wie Phrase und Tonfall das Leben bilden. Seine Absicht war nur, „die Welt so zu schildern, wie sie halt leider ist“. 1931, im Jahr der Uraufführung, bekommt Horváth den durch Carl Zuckmayer vergebenen Kleist-Preis. 1948 (bei der österreichischen Erstaufführung am Volkstheater Wien) entfesselt das Stück einen handfesten Skandal („Blasphemie auf ein Wienertum“). Das ist zum Saisonschluß des Volkstheaters eine ganz wichtige, eine großartige, eine konzentrierte Aufführung eines der wesentlichsten Stücke, die über Wien geschrieben worden sind. Michael Gruner hat Horváths beängstigend aktuellen, beängstigend sezierenden Text sehr konzentriert, sehr klar, nichts beschönigend inszeniert und trotzdem mit einer scheinbaren Leichtigkeit das Publikum auch zum Lachen gebracht. Denn eigentlich ist es ja tragikomisch, was hier passiert, und man wird nur allmählich gewahr, wie grausam die Menschen miteinander umgehen. Wolfgang Hübsch als Zauberkönig läßt größte Vorbilder vergessen, er ist genau der Typus jenes weinerlichen, selbstgefälligen, selbstbemitleidenden Menschen, der die Umwelt nicht beachtet, sondern nur sein eigenes Wohlergehen im Auge hat. Neben ihm ausgezeichnet Fritz Hammel als Alfred, Rudolf Jusits als Oskar, Chris Pichler in der Rolle der Marianne, Hilde Sochor als Großmutter. Es wurde beim Publikum an diesem Abend auch sehr viel gelacht. Erstaunlich, daß manche Leute so heiter sind, obwohl man ihnen den Spiegel vorhält.
Ein seliger Saison-Ausklang mit lauter (lebendigen) Toten? Das Wiener Volkstheater schafft das Kunststück spielend – dank Regisseur Michael Gruner. „Geschichten aus dem Wiener Wald“ ist eine Geschichte über (noch) lebende Tote. Chris Pichler, von Gruner aus Weimar heimgeholt, lebt als einzige unter den Toten. Ein schöneres Volkstheater-Debüt kann man niemandem wünschen. Der Zauberkönig Wolfgang Hübschs verstrahlt nur nach außen hin Bonhomie und leutselige Gemütlichkeit. Im Kern ist er ein ungerechter, scheinheiliger Egoist, der sich mitschuldig macht am Elend, in das seine Tochter gerät. Chris Pichler verkörpert dieses junge Mädchen, das bei erstbester Gelegenheit einen Ausbruchsversuch aus dem kleinbürgerlichen Mief unternimmt. Glaubwürdig in jeder Faser ist dieses junge Geschöpf – zunächst rührend naiv und von neugieriger Unschuld; ernüchtert, verhärtet und gebrochen nach der großen Katastrophe. Rudolf Jusits ist der Fleischhauer Oskar, der mit seinen „Kalendersprüch“ für alle Gelegenheiten seine dämonische Gefährlichkeit zudeckt. Eine wundersam gezeichnete Horváth-Figur ist auch Vera Boreks Valerie, eine lebens- und liebeshungrige Beamtenwitwe und Trafikantin, die ihre jungen Liebhaber aushält. Fritz Hammel als Alfred liefert die beeindruckende Studie eines „weichen“ Charakters. Aus der von Michael Gruner vorgeführten Revue treffend gezeichneter Wiener Typen ragen insbesondere noch Stephan Paryla-Raky als Havlitschek, Rainer Frieb als Rittmeister und Johanna Mertinz als Alfreds Mutter heraus. Ein Kabinettstück ist Erika Mottls Kurzauftritt als Emma. Michael Gruner hat nach Raimund und Schnitzler nun auch bei Horváth erneut sein unglaubliches Gespür für Wienerisch-Österreichisch-Abgründiges bewiesen. Regisseur Michael Gruner gelang es, das Ensemble zu einer erstaunlichen Leistung anzuspornen. Melancholie und Sentimentalität mit einem wohldosierten Schuß Gemeinheit, das sind die Essenzen, mit denen Gruner „Geschichten aus dem Wiener Wald“ zum Publikumserfolg verhilft. Gruners Hauptqualität ist die Personenführung. An diesem Abend gibt es keine Nebendarsteller. Hier wird der Begriff Ensemble zum Faktum. Im Volkstheater haben wir nun das Glück, einen ungeschminkten und dennoch höchst poetischen Horváth erleben zu dürfen. Regisseur Michael Gruner hat das Stück regelrecht seziert. Aber er erweckt es vor den Augen des Publikums mittels der wunderbar genauen Sprache des Autors wieder zum Leben. Bei Gruner ist nichts Spekulation, da gibt es keine vordergründigen Späßchen. Und trotzdem sind diese „Geschichten aus dem Wiener Wald“ alles andere als trockene Theaterkost. Am eindrucksvollsten ist freilich Rudolf Jusits als Oskar. Wenn er mit seinem Gesellen über Frauen philosophiert, laufen einem Schauder über den Rücken. Sehr bewegend sind aber auch Fritz Hammel als Strizzi Alfred, Chris Pichler als Marianne, Wolfgang Hübsch als hartherziger Zauberkönig und Johanna Mertinz als Alfreds Mutter. Das Böse in Person verkörpert Hilde Sochor als Großmutter. Ein großer Abend. Ein Fest der Großkaliber und verschämten kleinen Volksfiguren, die viel können und wenig Aufhebens davon machen. Wie Erika Mottl (Emma) und Johanna Mertinz (Mutter des Alfred); wie Rainer Frieb als k.u.k. Rittmeister, wie auch Thomas Stolzeti als schmieriger Gauner, Stephan Paryla-Raky als Fleischhackerg’sell, Uwe Falkenbach als Conferencier und Isabel Weicken als Gnädige Frau. Das Volkstheater holte sich mit größtem Gewinn Wolfgang Hübsch als Zauberkönig: einen scheinbar liebenswürdigen Brummer, der jäh ins Brutale umkippt und sein Töchterchen verstößt, sobald es ihm nicht mehr in seine Moraltapeten paßt. Fritz Hammel als Alfred – ein Schlurf mit Charme, von malerischer Ungeradlinigkeit, und doch mit einem starken Herzen. Hilde Sochor als die böse Großmutter, die das ungewollte Enkerl rasch von der Welt schaffen will. Eine Hexe von Hinterhausformat, die nicht nur kleinen Kindern angst macht! Doch keine gibt sich so grobschlächtig, verschlagen, ordinär, altersgeil und häßlich – und bleibt doch so tragisch menschlich, künstlich distanziert wie Vera Borek, die fünfzig Jahre alte Trafikantin mit ein bißchen Geld und viel Lust auf junge Diener. Voller Jubel für die Schauspieler. Sehr sensibel und behutsam entwickelt Gruner die Geschichte der Marianne, die in die Mühlen ihres Vaters, ihres brutalen Bräutigams und ihres windigen, schwachen Liebhabers gerät. Diese vier ungemein differenzierten und intensiven Figuren bilden das Zentrum seiner Inszenierung. Die junge Chris Pichler gestaltet eine recht unkonventionelle Marianne, von herber Lieblichkeit, kraftvoll zu Beginn, zuletzt ein Mensch, dem das Leben ausgetrieben wurde. Einen bis in die feinsten Nuancen ausgearbeiteten egoistischen und fiesen Charakter lebt Wolfgang Hübsch als Zauberkönig vor. Wunderbar schleißig gestaltet auch Fritz Hammel den Alfred, einen irgendwo doch liebenswerten Tunichtgut und Schwächling. Sind diese Figuren überzeugend, aber nicht überraschend, so findet Rudolf Jusits für den Schlächter Oskar tatsächlich neue Dimensionen. Ein unheimlich sanfter, anscheinend liebevoller und frommer Mann, geraten ihm die Annäherungen an Marianne zum Gewaltakt, wird ein verborgener Untergrund spürbar, der ihn zur Bestie macht. Ein schwerer Theaterunfall. Mit seiner Inszenierung riskiert Gruner fahrlässig seinen Ruf als Spezialist für österreichische Stücke, indem er einen Großteil des Ensembles zu völlig verlottertem und klischeehaftem Spiel animiert. |