Ab 2002/03
Haupthaus

Globalisierung und Gewalt. Perspektiven nach dem 11. September

In Zusammenarbeit mit Der Standard

Moderation: Claus Philipp, Der Standard
Konzeption: Karl Baratta, Volkstheater und Claus Philipp, Der Standard

  

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Slavoj Zizek

10. März 2002

Der erste von drei Vorträgen mit anschließendem Gespräch über Globalisierung und Gewalt nach dem 11. September: Ein immenser Erklärungsbedarf tut sich auf – unzählige Kommentare, Analysen, Erlebnisberichte im internationalen Feuilleton belegen dies: Eine, so Jean Baudrillard kürzlich in der Zeitschrift ,Lettre’, „gigantische Abreaktion auf das Ereignis selbst und die Faszination, die es ausübt“. Dagegen hält der Philosoph die Chance der Verlangsamung: „Das ganze Spiel der Geschichte und der Macht ist über den Haufen geworfen, doch auch die Bedingungen der Analyse. Wir müssen uns Zeit nehmen. Denn solange die Ereignisse stagnieren, musste man antizipieren und schneller sein als sie. Wenn sie aber derart beschleunigen, muss man langsamer sein.“

„Die absolute amerikanische Paranoia bestünde darin, dass einem Menschen, der in einer idyllischen kalifornischen Kleinstadt, einem Konsumparadies, lebt, allmählich schwant, dass die Welt, in der er lebt, nur Schwindel ist, ein Spektakel, das ihn überzeugen soll, er lebe in einer realen Welt, während alle um ihn herum tatsächlich Schauspieler und Statisten in einer gigantischen Show sind. Es ist also nicht nur so, dass Hollywood den Anschein eines realen Lebens inszeniert, das des Gewichts und der Trägheit der Körper beraubt ist – in der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft nimmt das „reale soziale Leben“ selbst Züge eines inszenierten Schwindels an, indem sich unsere realen Nachbarn wie Schauspieler und Statisten verhalten.“
„Wenn wir hören, die Anschläge seien ein völlig unerwarteter Schock gewesen, sollten wir uns an die andere kennzeichnende Katastrophe vom Beginn des 20. Jahrhunderts erinnern, die der Titanic: Auch sie war ein Schock, doch der Raum dafür war schon in ideologischen Fantasievorstellungen vorbereitet, da die Titanic das Symbol der Macht der industriellen Zivilisation des 19. Jahrhunderts war. Gilt dasselbe nicht auch für diese Anschläge? Nicht nur bombardierten uns die Medien unablässig mit ihren Warnungen von der terroristischen Bedrohung; diese Bedrohung war auch offenkundig libidinös besetzt – man erinnere sich nur an die einschlägigen Filme von Escape From New York bis Independence Day. Darin liegt der Grund für die häufig betonte Assoziation dieser Angriffe mit den Katastrophenfilmen Hollywoods: das Undenkbare, das geschah, war schon Gegenstand der Fantasie, sodass Amerika in gewisser Weise dem begegnete, worüber es fantasierte, und das war die größte Überraschung.“

  

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Jean Baudrillard

17. März 2002

„Weltereignisse haben wir schon einige erlebt, vom Tod Dianas bis zur Fußballweltmeisterschaft, und auch gewaltsame und reale Ereignisse, von Kriegen bis hin zu Völkermorden. Aber ein globales, symbolisches Ereignis nicht bloß weltweiter Verbreitung in allen Medien, sondern das selbst der Globalisierung den Kampf angesagt hätte – so etwas hat es noch nie gegeben.“
„Der moralischen Verurteilung, der heiligen Union gegen den Terrorismus entspricht eine erstaunliche Schadenfreude angesichts der Zerstörung der Supermacht, oder besser: angesichts ihrer Selbstzerstörung, ihres Selbstmordes als Kunstwerk. Denn sie selbst hat durch ihre unerträgliche Übermacht nicht nur diese ganze Gewalt geschürt, von der die Welt erfüllt ist, sondern auch – ohne das selbst zu wissen – die terroristische Fantasie, die in uns allen ist. Wir haben es also nicht mit einem Zusammenprall der Kulturen oder Religionen zu tun, und das betrifft auch keineswegs nur den Islam und Amerika, auf die man den Konflikt gerne zuspitzt, um sich die Illusion eines sichtbaren Konflikts und einer gewaltsamen Lösung vorzugaukeln. Es geht hier in der Tat um einen grundlegenden Antagonismus, der freilich in Gestalt Amerikas (das vielleicht das Zentrum, aber keineswegs die einzige Verkörperung der Globalisierung ist) und in Gestalt des Islam (der ebenfalls nicht der Inbegriff des Terrorismus ist) die triumphierende Globalisierung bezeichnet, die mit sich selbst in Konflikt gerät.“

   

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Alexander Kluge

7. April 2002

Aus einem Interview mit Alexander Kluge:
Standard: „Wie im Kino“ oder „wie ein Film“: Angesichts der Zerstörungsbilder aus den USA suchen die Menschen Vergleiche, als ob das alles gar nicht wirklich wäre. Wie sehen Sie dieses Missverhältnis?
Kluge: Es ist wahr, dass das Kino viele von diesen Fantasiemomenten, die in der Wirklichkeit stecken, vorweggenommen hat. Ich sehe King Kong vor mir, 1928, auf dem Empire State Building: Flugzeuge greifen an, einige rasen auch in die unteren Stockwerke des Gebäudes. Was hier zugeschlagen hat, ist ein Wirklichkeitsverhältnis. Was in New York passiert ist, hat mit Hollywood nichts zu tun. Hollywood ist eher auf der Seite des amerikanischen Präsidenten. Der jetzt, wo eigentlich nichts mehr zu machen ist, Flugzeugträger vor New York positioniert oder sagt: „Hunt them down!“ – das ist drehbuchmäßig.
Standard: Und dagegen steht die verwüstete Wirklichkeit in Manhattan.
Kluge: Ja, in einer Stadt, in der die Verletzlichkeit eines zivilisatorischen Gemeinwesens durch diese Wolkenkratzer versinnbildlicht ist. Einer hocheuropäischen Stadt, die als einzige Minderheiten in sich vereinigt, wie das früher Babylon gemacht haben mag. Wo eine eigene Sprache entstanden ist: das New Yorker Bewusstsein – aus diesen Gegensätzen heraus. Für mich ist es eine der Spitzenstädte der Zivilisation. Und es ist exzessiv verletzlich. Schon Hitler hat den Plan einer Vergeltungswaffe, der berüchtigten V3, entwickelt, die entlang der Stratosphäre, wie ein Stein auf dem Wasser, bis New York Sprengstoff transportieren sollte, „wo man immer was trifft“.

  

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Boris Groys

1. Dezember 2002

   

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André Glucksmann: Was heißt Terrorismus?

2. März 2003

Der französische Philosoph und Schriftsteller André Glucksmann ist ein zentraler Vertreter der so genannten Neuen Philosophen, die in ihrer Auseinandersetzung mit dem Marxismus eine dezidierte Kritik totalitaristischer Systeme entwarfen.

    

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Peter Weibel: Krieg: Ökonomie und Verbrechen

11. Mai 2003

Peter Weibel,
Künstler, Ausstellungskurator, Kunst- und Medientheoretiker, wurde 1944 in Odessa geboren. Er studierte Literatur und Film in Paris, Mathematik, Medizin, Philosophie in Wien.
1976–81 Lektor für „Theorie der Form“ und
1981–84 Gastprofessor für Gestaltungslehre und bildnerische Erziehung an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien
1981 Gastprofessor am College of Art and Design in Halifax, Kanada
1979/80 Gastprofessor für „Medienkunst“ und
1981 Lektor für „Wahrnehmungstheorie“ und
1982–85 Professor für Fotografie an der Gesamthochschule Kassel
1984–89 Associate Professor for Video and Digital Arts, Center for Media Study, State University of New York at Buffalo, N.Y.
1989–94 Direktor des Instituts für Neue Medien an der Städelschule in Frankfurt/Main seit 1984 Professor für visuelle Mediengestaltung an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien
1986-95 künstlerischer Berater und
seit 1992 künstlerischer Leiter der Ars Electronica in Linz
seit 1993 Österreich-Kommissär der Biennale von Venedig
seit 1993 Chefkurator der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum in Graz
seit 1999 Leiter des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe
In den 60er Jahren arbeitete Peter Weibel im Umfeld der „Wiener Aktionisten“ (Weibel prägte den Terminus 1969). Von Anbeginn seiner künstlerischen Tätigkeit wird das Medium Film mit einbezogen, um die Problematik von Objekt und Bild, von Produktion und Reproduktion, von Wirklichkeit und Medien zu thematisieren. Ab 1969 werden Mechanismen und Strukturen visueller Wahrnehmung untersucht und die soziale Befindlichkeit des Rezipienten im Kommunikationsprozess analysiert. Weibel problematisiert die Fragen des Einflusses der elektronischen Medien auf die Wahrnehmung, auf das Weltbild und die veränderte Wahrnehmung von Raum und Zeit. In den 70er Jahren wendet sich Weibel medienzentrierten und publikumspartizipatorischen, interaktiven Arbeiten zu. In den Werken der 80er Jahre entwickelt er eine autonome Bildsprache auf der Basis komplexer elektronischer und digitaler Medien, eröffnet damit ganz neue Wahrnehmungsräume, bis hin zu virtuellen Welten. In den 90er Jahren entwickelt er seine videobasierten Installationen weiter zu interaktiven computer- und netzbasierten Installationen.

   

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Christoph Schlingensief

25. Mai 2003

Christoph Schlingensief hält einen ersten Informationsvortrag zu seinem Biennale-Projekt „Church of Fear“.
Es ist Zeit, sich offensiv zu ängstigen.
„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ [ 1. Korinther 13,12 ]1 Die Angst ist ein Meister aus Österreich… Auch jenseits der Alpen ist Angst ein treuer Begleiter. 2 Angst macht krank, Angst ist aber auch Vorhof zur Hoffnung.
2 Der Glauben versetzt Berge – wo, wenn nicht in Österreich? Am Vorabend des persönlichen oder globalen Untergangs entfalten die orientierungslosen Völker der Welt eine beinahe abgöttische Begeisterung für Kulte und Rituale, 2 die Angst behandeln und Hoffnung schenken – die „Glauben machen“. 3 Es ist Zeit, zu handeln ! 4 Es ist Zeit, sich offensiv zu ängstigen, Zeit, sich zur Angst zu bekennen, um aus ihr zu schöpfen ! 5 Vor diesem Hintergrund lädt die neu gegründete CHURCH of FEAR [ CoF ], 6 vertreten durch Gemeindemitglied Christoph Schlingensief, 7 zum CoF-Informationsvortrag ins Volkstheater Wien. 8 Neben den großen Kirchentagen, die die CHURCH of FEAR in diesem Jahr unter anderem auf der 50. Kunstbiennale in Venedig veranstaltet, 9 führt Christoph Schlingensief in den Zentren Europas in das Angstbekenntnis der CHURCH of FEAR ein. 10 Angst und Glauben kennen keine Grenzen. Das Wiener Referat ist Bestandteil der Europäischen CoF-Verkündungsprozession, die in Berlin, Frankfurt/M., Brüssel, Paris, London und Rom Station einlegt.
3 Von größter Bedeutung für den Freihandel mit Ängsten ist 2 die soeben gestartete Homepage der CHURCH of FEAR. 3 Durch sie wird die Botschaft der CoF auch virtuell unterstützt. 4 Unter www.church-of-fear.net kann sich jeder über die CHURCH of FEAR informieren, 5 sich für die CHURCH of FEAR engagieren 6 und eigene Ängste und Depressionen zum Ausdruck bringen.
4 „Wien“, 2 so Christoph Schlingensief, 3 „ist seit jeher sakrale Begegnungsstätte. Wien gibt der Church of Fear die Gelegenheit, ihren globalen, ja sogar ihren universalen Charakter zu unterstreichen 4 und die Botschaft der Angst hinaus zu tragen in diese und in andere Welten.“
„Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ [ 1. Korinther, 13,12 ]

CoF
CHURCH of FEAR
www.church-of-fear.net

Christoph Schlingensief – Theater- und Filmregisseur („Das deutsche Kettesägenmassaker“, „Terror 2000“; „Schlacht um Europa“/ Volksbühne/Berlin; „Hamlet“/Schauspielhaus Zürich), Showmaster („Talk 2000“, „U3000“, „Freakstars 3000“), Aktionskünstler – hat sich in Wien nicht zuletzt durch seine umstrittene Containeraktion „Ausländer raus! – Bitte liebt Österreich“ bei den Festwochen 2000 einen Namen gemacht.
Seine jüngsten Inszenierungen: „Rosebud“ (Berlin 2001), „Quiz 3000“ (Berlin 2002), „Atta – Atta“ (Berlin 2003)

   

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Alexander Kluge: Die Lücke, die der Teufel lässt

21. Dezember 2003

„Die Möglichkeit fängt an zu spinnen“
500 Geschichten erzählt der deutsche Schriftsteller Alexander Kluge in seinem neuen Buch („Die Lücke, die der Teufel lässt“) – über U-Boot-Fahrer, missglückte Gemeinwesen oder Nachfahren des Odysseus. Claus Philipp sprach mit dem diesjährigen Büchner-Preisträger.

Standard: Beginnen wir mit einem ersten Eindruck. Einerseits haben Sie im Jahr 2000 mit der „Chronik der Gefühle“ Ihre bisherigen Prosatexte überarbeitet. Andererseits, 2001: Ihre „gemeinsame Philosophie“ mit Oskar Negt, „Der unterschätzte Mensch“. War das eine Vorbereitung für „Die Lücke, die der Teufel lässt“?
Alexander Kluge: Nachdem diese beiden Bücher veröffentlicht waren, habe ich mich freier gefühlt. Ich konnte neue Geschichten erzählen. Die 500 Geschichten hier sind aus den letzten drei Jahren. Dazu kam: Noch 1989 hatte man in der Bundesrepublik das Gefühl – auch in Hinsicht auf Perspektiven für die Kinder – wir gehen in ein augusteisches Zeitalter, alles wird harmonisch. Das Gegenteil trat ein. Die Wirklichkeiten auf dem Planeten beginnen, ihre Romantätigkeit zu intensivieren. Die Möglichkeit fängt an zu spinnen. Gewiss, über das, was man direkt miterlebt bzw. was man im Fernsehen sieht, kann man keine Geschichte schreiben. Aber der Impuls, dass Fragen sich intensivieren, dass Geschichten nach Ausdruck verlangen – das habe ich sehr stark empfunden.
Standard: Kommen wir gleich zu einem kurzen Text, „Ein Fluss mit Vergangenheit“. Da geht es um das russische Flüsschen Pripjat in der Nähe von Tschernobyl, und da werden lediglich in einer Fußnote die „hervorragenden Koagulantien für radioaktive Teilchen“ erwähnt. Dazu das Bild eines kontaminierten Hundes. Der Text selbst war bereits in „Der unterschätzte Mensch“ ein Gelenk zwischen „Öffentlichkeit und Erfahrung“ und „Maßverhältnisse des Politischen“.
Kluge: Das ist da einfach reingerutscht, weil Tschernobyl für mich eine Metapher für das missglückte Gemeinwesen darstellt. Die Elementarteilchen, die da freigesetzt werden, haben eine Halbwertszeit von 300.000 Jahren, und das Gemeinwesen Sowjetunion, das den Schaden beheben müsste – diese Republik hatte eine Halbwertszeit von zweieinhalb Jahren. Seither sind drei verschiedene Republiken „negativ zuständig“, wie der Jurist sagt. Dieser neue Zustand gibt mir zu denken.
Standard: Dem halten Sie den Vorschlag einer verschwörerischen Gemeinschaft zum Schutz der Menschheit entgegen. Oder, als Geschichtenerzähler, einen Grafiker, der sich mit der Frage beschäftigt: Wie wären Warnzeichen in/für die Zukunft zu gestalten?
Kluge: Er hat ein wirkliches Problem ins Auge gefasst: Möglicherweise wird in Tausenden von Jahren kein Zeichen, das wir uns ausdenken, noch verständlich sein. Wie können wir also die Orte des Unglücks kennzeichnen, einer Katastrophe, die dann immer noch nachwirkt? Gehen Sie davon aus: Beim Geschichtenerzählen ist man nicht parteiisch wie bei einem diskursiven Text, wo man sagt, das eine ist richtig, das andere ist falsch. Und da ist jemand, der vor sich hin spinnt entlang der Frage, wie kann man sich verständlich halten über die Zeiten – genauso eine schräge Denkform, wie wenn ich ein Kernkraftwerk plane und nicht beschützen kann.
Standard: Sie denken also Rüstzeug, das Sie sich erwarben, noch einmal zusammen. Wie einen Atlas .…
Kluge: Das ist etwas, das mir sehr entgegenkommt. Wir arbeiten wie Geografen an Landkarten, aber es sind Landkarten der Erfahrung, die auch die innere Stimme mit berücksichtigen. Das ist Erzählen. Und die Geschichten bilden untereinander Gegensätze oder Konkurrenzen. Über ein paar Ortsangaben hinweg kann man an verschiedenen Enden des Buches auf dieselbe Erzählung stoßen. Zum Beispiel sämtliche Wasserläufe vom Flüsschen Pripjat hin zur Wolga oder dem Brahmaputra, dem Euphrat und Tigris: Wenn Sie nun in dem Buch alle Flüsse und Erzählungen übers Wasser zusammen greifen, haben Sie eine eigene Geschichte.
Standard: Ein Kartograf weiß am Anfang natürlich nicht, wie die Landkarte, die er zeichnet, aussehen wird. Er kann sich bestenfalls an etwas orientieren, das es vorher gab.
Kluge: Dazu kommt erschwerend, dass ich über bewegte Objekte erzähle. Schiffe. Seefahrer. Gibt es an der anderen Seite des Atlantiks ein neues Land? Das wäre eine interessante Fragestellung. Bei Variationen unserer Erfahrung: Was sind die neuen Küsten? Wo komme ich an? Das ist eine grundlegende Frage, die auch schon Odysseus beschäftigte. Deswegen gibt es in meinem Buch auch Heimkehrergeschichten, die fragen: Wie sind die europäischen Außengrenzen befestigt? Was ist das verheißene Land? Was ist die Erwartung, die so viele Menschen nach Europa treibt? Dann: Feuerwehrgeschichten, U-Boot-Geschichten, Geschichten vom Kosmos. Verschiedene Orte, sehr verschiedene Dimensionen, und die muss man Echolot-artig abtasten durch Erzählungen.
Standard: Aber wenn während des Schreibens nicht absehbar ist, wohin sich das Schiff bewegt, wie gewinnt ein Buch wie „Die Lücke“ Form?
Kluge: Zunächst mal, indem man die wichtigste Frage als Kapitel eins bezeichnet. Die Geschichten, die zu verschiedenen Zeiten geschrieben sind, rücken jetzt gravitativ in Richtung dieses ersten Kapitels, wenn sie auf die Frage antworten: „Was ist der Unterschied zwischen lebendig und tot? Was heißt lebendig?“ Das ist keine einfache Frage. Wie Heiner Müller sagte: Auch die Toten leben in uns.
Standard: Was bedeutet dann in diesem Buch Recherche? Sie bestehen ja darauf, dass viele Geschichten tatsächlich Fakten wiedergeben.
Kluge: Nehmen Sie einmal so eine Sicherheitskonferenz, die in München stattfindet und auf der ich für dctp Gespräche führte, kurz vor Ausbruch des Irakkrieges. Zwei Gesprächsebenen waren da zu beobachten. Die eine: Es ist alles entschieden, wie richten wir uns darin ein? Die andere: Wir diskutieren im Moment der Gefahr Völkerrecht, Strategien, Clausewitz. Da gibt es jetzt einen Arbeitszeitmesser, der mit seiner Methode fragt: Wie viele sind hier Moderatoren, Lobbyisten, Dienstleister – und wie viel ist noch klassische kritische Intelligenz? Wie auffällig wäre es, würde vor dieser Öffentlichkeit ein Vortrag von Jürgen Habermas gehalten? Wie sehr würde der stören? Die Lücke in diesem teuflischen Verfahren ist, dass die Intelligenz zwar zum Dienstleister wird, in ihrer kritischen Fähigkeit unterworfen wird – aber sie gehorcht dennoch nicht. Die unterworfene Intelligenz ist genauso eigensinnig und widerborstig, wie es vorher die kritische war.
Standard: Dafür finden Sie auch Beispiele aus dem Untergang der Sowjetunion.
Kluge: Auf der einen Seite freue ich mich, wenn große Machtsysteme zusammenbrechen. Andererseits glaube ich, dass den Menschen und der Arbeit und der Mühe, die sich Leute geben, übrigens auch der Kenntnis von Problemen, das heißt Erfahrung – dass dem unsere Aufmerksamkeit gebührt. Ist etwas zusammengebrochen, dann ist es menschenwürdig, dass man Respekt vor den involvierten Menschen zeigt, indem man das noch einmal erzählt. Das sind die Märchen von heute. Die Brüder Grimm würden heute nicht Großmütter nach Märchen befragen, sie würden die Geschichte des russischen Imperiums erzählen, durch die USA, Asien, Afrika reisen, also Märchen, die die Realität erzählt, sammeln.
„Der Standard“ vom 13.09.2003

   

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Rolf Hochhuth: Die Kriminalisierung unseres Wirtschaftslebens

14. März 2004

Der Dramatiker Rolf Hochhuth, geb. 1931, hat für seine Stücke fast immer „heiße“, kontroversielle Themen gewählt. Sein neuestes, kürzlich uraufgeführtes Stück „McKinsey kommt“, führte in Deuschland schon im Vorfeld der Uraufführung zu heftigen Diskussionen.
Hochhuths zentrale These lautet, dass man von der McKinsey-Zeit noch in hundert Jahren sprechen wird, so wie wir heute von Gründerjahren sprechen: „Denn, das ‚Effizienzprinzip hat einen Namen: McKinsey' (Dirk Kurbjuwiet). Ebenso wie jetzt Rationalisieren und Fusionieren das Denken aller Arbeitgeber auf Kosten zahlloser einst Beschäftigter beherrscht, ebenso waren um 1900 zum Segen der Arbeitnehmer die Bosse, die Wirtschaft überhaupt vom Gründertrieb besessen, das heißt von der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Seit Arthur Miller vor 50 Jahren ,Tod eines Handlungsreisenden' auf die Bühne brachte, wird hier erstmals wieder der ,Rausrationalisierte' ins Zentrum eines Dramas gerückt: die Katastrophe der Entlassenen. Ich zeige nicht McKinsey, sondern die Opfer einer weltweiten ,Religion', zu der die von unseren Politikern total unbeaufsichtigte Diktatur der Weltwirtschaft geworden ist: Der Abbau von Arbeitsplätzen wurde zum Maß aller Dinge.“

   

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Terror im Vergnügungspark, ein Einführungsvortrag
Deutschbauer/Spring

10. Juni 2004

Diese Veranstaltung wurde am 18. Juni 2004 am Schauspielhaus Zürich wiederholt

„Terror im Vergnügungspark“ untersucht die Rezeption des Terrorismus durch die Medien. Es stellt sich die Frage in wie weit der Terror nicht schon längst zum Terrorvergnügen für die ganze Familie geworden ist. Deutschbauer/Spring entwerfen einen einschlägigen Vergnügungspark.

Julius Deutschbauer: Jahrgang 1961, bildender Künstler, Begründer und Bibliothekar der „Bibliothek der ungelesenen Bücher“
Gerhard Spring: Jahrgang 1962, Studium an der Hochschule Mozarteum und an der Hochschule für angewandte Kunst Wien (Mediengestaltung)
Seit 2000 als Künstler-Duo „Deutschbauer/Spring“ tätig.
Videos, Texte, Diaprojektionen, Fotografie, Fotomontagen, Konzeptkunst, Interventionistische Kunst, Plakate, Performances, Aktionen u.a.

   

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Viktor Jerofejev: Terrorismus in Russland

10. Oktober 2004

„Ich weiß nicht, was in diesen Tagen Rußland mehr erschüttert hat – die Tötung der Kinder oder die damit verbundene offene Deklaration des Hasses. Rußland ist es nicht gewohnt, gehaßt zu werden. Es findet an sich viele feminine Züge und gefällt sich selbst. Jedenfalls mögen es die Russen nicht, wenn man ihnen ins Gesicht spuckt. Und Bassajew hat das getan. Sein Spucken war eine Kriegserklärung.
Beslan spielt Bush in die Hände. Rußlands zweiter Herrscher: Bassajew.
Bassajews Spucken bedeutet für Rußland den Beginn jenes dritten Weltkrieges, den die gesamte westliche Zivilisation mit Recht fürchtet und mit aller Kraft hinauszuschieben versucht oder gar nicht erst wahrhaben will. Ich bedaure, daß Beslan Bush in die Hände spielt, aber das ist nicht zu ändern.
Rußland ist aus verschiedenen Gründen eine Schwachstelle in der westlichen Zivilisation, vor allem aber ist es durchaus nicht davon überzeugt, daß es zu dieser Zivilisation eine wesentliche Beziehung hat. Äußerlich ja, den Westen benutzen – das natürlich! Aber im Innern sind wir anders. Keiner hat indessen große Lust, einen Blick in unser Inneres zu werfen.“
Viktor Jerofejew

Viktor Jerofejew, 1947 in Moskau geboren, gilt als einer der führenden Kulturkritiker und Autoren Rußlands. Er schreibt regelmäßig für die New York Review of Books und den New Yorker, sowie für die Zeit und die FAZ. Sein Roman „Die Moskauer Schönheit“ ist in 27 Sprachen übersetzt. Sein letzter Roman „Der Gute Stalin“ ist vor kurzem auf deutsch erschienen.

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