1988/89
Haupthaus |
Die Jungfrau von Orleans Premiere 4. September 1988 Vorführung der TV-Aufzeichnung in memoriam Angelika Meyer Mit Inszenierung: Torsten Fischer Warum ausgerechnet Die Jungfrau von Orleans zu Beginn? Schillers selten gespielte klassische Johanna-Tragödie beschreibt den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Unterwerfung und Ungehorsam vielschichtig und folgerichtig. Johanna leistet zwar Widerstand gegen die traditionelle Pflichterfüllung als Frau in der Familie, die einen Teil ihrer menschlichen Möglichkeiten, ihren Glauben, ihre Fähigkeit zu beschneiden möchte, sie befreit sich; unterwirft sich gleichzeitig fanatisch einer neuen, „höheren“ Pflicht, die sie in Konflikt mit Liebe und Menschlichkeit bringt: aus dem im vermeintlichen Glaubensauftrag wird mörderische Pflichterfüllung für Gott und Vaterland. Schillers Lösung — Johanna kann ihre Pflicht, ihren Auftrag erfüllen und wird durch ihren Opfertod von der Schuld, die sie auf sich geladen hat, befreit — kann heute nicht mehr die unsere sein. Und ist die Frau mit Schwert und Helm, euphorisch den Krieg anfachend, 1988 noch eine mögliche Identifikationsfigur? Und ist die Liebe nun Hindernis bei der Erfüllung großer Aufgaben, oder verhindert sie nicht vielmehr das Morden, den Terror im Namen irgendeines höheren Auftrages? Auch das ein Anlaß, das Stück wieder zu spielen. Schillers Fragen sind gültige Fragen und werden uns – leichter oder komplizierter, witziger oder märchenhafter gestellt – in der Saison 88/89 immer wieder begegnen. Demnächst in diesem Theater Zündstoff von Tom Kempinski. (Emmy Werner) Zum Spiel-Plan 1988/89: Das Schiller-Zitat „Das Wort ist frei, die Tat ist stumm, der Gehorsam blind“ soll als Motto über der Spielzeit 88/89 stehen. Grundthema unseres Spielplans ist die Spannung zwischen Anpassung und Ungehorsam, zwischen Sich-Ducken und Aufbegehren. Von den Klassikern Schiller, Gogol und Gozzi, den Volksklassikern Schönherr und Fo, den kritischen Zeitgenossen Kempinski und Wertmüller bis zu den Meistern der modernen Komödie Ayckbourn und Simon knüpfen die Schlüsselbegriffe Pflicht, Aufstand, Liebe, Magie und Glaube einen roten Faden. Wir freuen uns, wenn er erkannt wird, ohne ihn schulmeisterlich aufdrängen zu wollen. Hinweisen aber wollen wir unser Publikum auf die Beziehung der drei italienischen Autoren zueinander, auf die Verbindung zwischen Johanna, Turandot und den Frauen bei Dario Fo und Lina Wertmüller, auf die inhaltlich sehr bewußt abgestimmte Reihenfolge der Stücke. Die Aufführung hat einen pochenden Rhythmus, sie drängt passioniert voran, und die vom Regisseur gestaltete Bühne ist überaus einfallsreich. Der Vorzug der neuen Produktion war ihre nie erlahmende Leidenschaft, und die riß am Ende auch das Publikum hin. All diese klaren ästhetischen Bilder wären vergeblich, hätten nicht die Schauspieler die Kraft, ihre Gefühle hineinzutragen: allen voran Angelika Meyer: unschuldig und grausam, heldenhaft, aber nicht sinnlich; faszinierend aber unberührbar. Die Botschaft, die sich wie ein roter Faden durch die Inszenierung zieht: Liebe wäre zwar möglich, aber alle befördern den Krieg. Mut gehört zu dieser Stückwahl, aber wer wagt, kann auch gewinnen. Daß der Abend zum Erlebnis wird, verdankt er wesentlich der Regie Torsten Fischers. Er hat aus Schillers weitschweifigem Drama eine Geschichte geformt, die das Publikum mit Spannung verfolgt, eine Geschichte von gestern, die aber in ihren Grundmustern des Handelns durchaus auch auf das Heute anwendbar ist. Keine Aufführung für Deutschlehrer und Dramaturgen. Aber eine für das allenthalben herbeigebetene junge Publikum. Fischers Inszenierung liess nun überhaupt keine gedankliche Konzeption erkennen. Die radikalen Kürzungen liessen viele psychologische Bezüge untergehen, wodurch das Spiel an Spannung verlor: durch starke Striche gewonnene Straffungen wurden in zu breit ausgespielten Szenen wieder vertan. |