1998/99
Haupthaus

Die Physiker
von Friedrich Dürrenmatt

Premiere 20. Jänner 1999

Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd, Irrenärztin: Hilde Sochor
Marta Boll, Oberschwester: Elisabeth Gassner
Monika Stettler, Krankenschwester: Anna Franziska Srna
Uwe Sievers, Oberpfleger: Ronald Seboth/Georgi Nikoloff
Herbert Georg Beutler, genannt Newton, Patient: Rainer Frieb
Ernst Heinrich Ernesti, genannt Einstein, Patient: Peter Uray
Johann Wilhelm Möbius, Patient: Thomas Stolzeti
Richard Voß, Kriminalinspektor: Rudolf Jusits
Missionar Oskar Rose: Roger Murbach
Frau Missionar Lina Rose: Johanna Mertinz
Adolf-Friedrich: Levente Viha/Gabor Prehoffer
Wilfried-Kaspar: Martin Mock/Andrej Cikan
Jörg-Lukas: Oliver Kratz/Matthias Eisenkölbl
Guhl, Polizist: Gerald Pecaver
Blocher, Polizist: Theodor Helmberger
Gerichtsmediziner: Franz Hiller
McArthur, Pfleger: Bob Odafe
Murillo, Pfleger: Markus Datzberger
Leichenträger: Gregor Fürnweger, Gerhard Reiner

Inszenierung: Urs Schaub
Bühne: Peter Schulz
Kostüme: Nina Reichmann


Hilde Sochor zu ihrem Jubiläum 50 Jahre Volkstheater

In Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“ schafft die moderne Naturwissenschaft das Irrenhaus: eine aus dem Lot geratene Welt. Einig sind sich Autor und Zuschauer über die verletzte Norm: das Ethos sozial verantwortbarer Forschung, die ihre Erkenntnisse nicht dem Zerstörungstrieb des Menschen ausliefern darf. Die Komödie indes entsteht, indem die Fabel die Logik umdreht - der Physiker Möbius flieht aus der irren Welt seiner Wissenschaft in das von der Norm vorgesehene Refugium des Irrsinns, ins Narrenasyl. Um sein Vernichtung bergendes Wissen vor dem Zugriff der Macht zu schützen, spielt er verrückt, läßt er sich den König Salomo erscheinen; so wiegt er sich in Sicherheit.
Diese Sicherheit teilt der Zuschauer mittlerweile längst nicht mehr mit Möbius: daß Verstellung, Maskerade, Komödie noch einen Schutz bieten könnten. Denn gegen das irrsinnig gewordene Vernichtungsspiel der Macht hilft kein simulierter Wahn, das Irrenhaus ist die Welt. So schicken weltliche Machthaber ihre Emissäre, in Gestalt ebenfalls verrücktspielender Physiker, in Möbius' Refugium; am Ende ist die Irrenärztin, Gebieterin des Narrenasyls, als einzig Verrückte enttarnt, aber den zu spät zur Räson gekommenen Wissenschaftern nützt solche Einsicht nichts: sie haben sich freiwillig ins Zentrum der Macht begeben.
Dürrenmatts Komödie macht Ernst mit der erschreckenden Erkenntnis, daß das preisgegebene Wissen nicht mehr zurückgenommen werden kann, daß die Welt damit aus dem Lot, ins Groteske geraten ist. Sein in der Komödie versteckter Appell an die globale Solidarität freilich ist dringlicher denn je geworden.
Uraufführung: 1962, Schauspielhaus Zürich

Der verschwundene Physiker Ettore Majorana: Im März 1938 verschwand in Neapel auf mysteriöse Weise der italienische Atomphysiker Ettore Majorana. Hat er geahnt, wie sehr seine Wissenschaft in den Dienst des Krieges genommen werden sollte, und ist er deshalb abgesprungen? Der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia hat es 1975 in seinem Buch „Der Fall Majorana“ so vermutet. Die wahre Geschichte freilich wird wohl nie mehr geklärt werden können. Dafür sind die überlieferten Fakten zu lückenhaft. Gleichwohl stellt der „Fall Majorana“ ein vielsagendes Rätsel rund um den Themenkreis Gewissenskonflikt und Verantwortungsethik von Physikern in der Atomforschung der dreißiger Jahre im Schatten totalitärer Politik dar.
Ettore Majorana, aus Catania stammend, hatte in Physik promoviert und 1933 in Leipzig bei Werner Heisenberg studiert. Wie sich sein Studienfreund Edoardo Amaldi, Mitarbeiter des italienischen Nobelpreisträgers Enrico Fermi und später einer der angesehensten Physiker Italiens, erinnerte, nannte man Majorana im Kollegenkreis Fermis den „Großinquisitor“, da er sich gerade bei Vorträgen bekannter ausländischer Physiker durch fundierte Kritik und Kenntnis hervortat. Amaldi war dabei, als sich Majorana Mitte der zwanziger Jahre bei Fermi als Mitarbeiter vorstellte. Fermi zeigte Majorana eine Tabelle, an der er tagelang gearbeitet hatte. Am nächsten Tag bereits kehrte Majorana zurück und verglich Fermis Zahlen mit seinen eigenen Berechnungen, dann meinte er trocken, Fermis Zahlen seien richtig. Noch vor der Entdeckung des Neutrons sprach Majorana in Rom von solchen Teilchen. Als Fermi auf einem Kongreß in Paris davon berichten wollte, verbot er ihm dies. Kurz darauf wurde das Neutron entdeckt, und Werner Heisenberg veröffentlichte seine berühmte Arbeit über die Austauschkräfte. Als Majorana davon hörte, meinte er nur, Heisenberg habe wahrscheinlich schon zuviel gesagt. 1932 stellte Majorana eine Theorie über den Spin auf, die damals nicht aufgegriffen und erst in den sechziger Jahren von den Russen wiederentdeckt wurde.
Auffallend ist, daß Majorana seit 1933, seiner Rückkehr aus Nazi-Deutschland, sehr schweigsam wurde, nur mehr wenig wissenschaftlich publizierte und die elterliche Wohnung kaum mehr verließ. Er hatte 1929 bei Fermi mit einer Arbeit über „Die Quantentheorie der radioaktiven Atomkerne“ promoviert und wies deutlich Züge eines frühreifen Genies auf. Mit seinem Lehrer Fermi lieferte er sich wahre Wettkämpfe um komplizierteste Berechnungen, „die Fermi mit dem Rechenschieber, an der Tafel oder auf einem Blatt Papier ausführte, Majorana hingegen im Kopf, ihm den Rücken zukehrend; und wenn Fermi sagte, Ich bin fertig!, nannte Majorana bereits das Resultat“ (Sciascia). Im Sommer 1938, nach dem Verschwinden Majoranas, schrieb der wegen des faschistischen Rassengesetzes bereits vor der Emigration nach Amerika stehende Fermi in seinem Gesuch an Mussolini um Aufklärung des Falls Majorana über diesen: „Ich zögere nicht, Ihnen zu erklären, und ich übertreibe nicht, daß unter allen Gelehrten, italienischen und ausländischen, die ich Gelegenheit hatte, näher kennenzulernen, Majorana derjenige war, dessen geniale Begabung mich am meisten beeindruckt hat. Er war gleichermaßen befähigt, Hypothesen von außerordentlicher Kühnheit aufzustellen und eigene wie die Arbeiten anderer scharf zu kritisieren; ein erfahrener Rechner und profunder Mathematiker, der niemals hinter dem Schleier der Zahlen und Rechenverfahren den wirklichen Kern des physikalischen Problems aus den Augen verliert, verfügt Ettore Majorana in höchstem Grade über jene seltene komplexe Begabung, die den Typ des Theoretikers großer Klasse ausmacht.“ Anfang 1938 hatte sich Majorana, entgegen seiner jahrelangen Zurückgezogenheit, einer Berufung auf den Lehrstuhl für theoretische Physik in Neapel gestellt. Doch am 25. März schiffte er sich nach Palermo ein, Abschiedsbriefe hinterlassend, wie an den Institutsdirektor Carelli, in dem es heißt: „Ich habe einen Entschluß gefaßt, der nunmehr unvermeidlich war. In ihm steckt nicht das kleinste Körnchen Egoismus, doch bin ich mir der Unannehmlichkeiten bewußt, die mein plötzliches Verschwinden Dir und den Studenten verursachen wird.“ Am nächsten Tag kam Majorana doch in Palermo an, widerrief in einem Telegramm an Carelli seinen Abschiedsbrief und schrieb aus dem Grand Hotel Sole: „Das Meer hat mich abgewiesen (…) Halte mich nicht für ein Mädchen aus einem Stück von Ibsen, der Fall ist anders.“ In der folgenden Nacht kehrte Majorana per Schiff nach Neapel zurück. Doch schon dies ist nicht mehr gewiß. Jedenfalls erinnerten sich später einige Zeugen, jemanden wie Majorana in Neapel gesehen zu haben, so auch der Pater Superior der Kirche Gesù Nuovo in Neapel, der damals einen Mann vom Aussehen Majoranas, der um Zulassung zu den Klosterexerzitien ersucht hatte, abgewiesen hatte. Aus alldem glaubte Leonardo Sciascia (und mit ihm viele andere) annehmen zu können, daß Majorana, der geniale Schüler Fermis, sein Leben nicht selbst zerstört, sondern in einem kalabrischen Kloster fortgesetzt haben könnte. 1934 schon hatten Fermi und seine Mitarbeiter begonnen, schwere Elemente wie Uran mit Neutronen zu beschießen. Dabei entging ihnen, wie Majoranas Physikerkollege Amaldi später fassungslos zugab, daß sie damals bereits Atomkerne gespalten hatten, ohne es zu merken. Hatte es Majorana gemerkt? Hat er die Möglichkeit der Atombombe vorausgeahnt? Ende 1938 konnten Otto Hahn und Fritz Strassmann die Entdeckung der Atomspaltung nachweisen. Da war Majorana bereits mehr als ein halbes Jahr „verschwunden“.

 
Pressestimmen

Virtuos spielt der Dicher mit Elementen der klassischen Tragödie, der Komödie, des britischen Kriminalstücks und des absurden Theaters. Wie Dürrenmatt seine Physiker ihr Selbstopfer zelebrieren läßt, um es durch die typische „schlimmstmögliche Wendung“ zu entwerten, das ist atemberaubend, zynisch und sehr, sehr komisch. Das Dilemma der Physiker wirkt, losgelöst von den Atom-Ängsten des Kalten Krieges, trotz Gentechnik nicht schlüssig. Heute erwartet die Öffentlichkeit wohl weniger die Zerstörung als eher die Rettung der Welt – vor Ozonloch, Überbevölkerung, Hunger, Seuchen.
Hilde Sochor als seelisch und körperlich buckliges Fräulein von Zahnd: im 1. Akt von sanfter Dominanz. Im großen Finale, sich jede Sentimentalität verbietend und verbittend, wie leer. Jubel für Sochors Bühnenjubiläum. Bravourös: Thomas Stolzeti als Physiker Möbius, der sich selbst und seine gefährlichen Erkenntnisse der Welt entziehen will. Großartig: Rudolf Jusits als zynisch-resignativer Inspektor.
Guido Tartarotti, Kurier

Das Fräulein Zahnd der Sochor hat einen ganz wunderbaren Augenblick. Im Schlußmonolog, der sie als die wahrhaft Wahnsinnige ausweist, breitet sie die Arme aus, wie um das Weltall zu umfassen, die glühenden Sterne und die verseuchten Planeten. Die Zahnd ist in diesem Moment das ungeküßt gebliebene Mädchen, dessen Backfischträume noch einmal in die Milchstraße hinausgreifen.
Ronald Pohl, Der Standard

Wenn das Volkstheater seine Produktion in die Hände des Schweizer Regisseurs Urs Schaub gelegt hat, so ruht sie da gut bei einem gewissenhaften Mann. Er gibt der Inszenierung bedächtigen Duktus und hascht nicht nach Pointen.
Renate Wagner, Neues Volksblatt

Friedrich Dürrenmatts Irrenärztin Zahnd, eine „Verrückte“ zwischen mondän und machtbesessen, meistert „die“ Sochor mit Anstand: Ihre Figur wirkt weniger kantig, hart, schweizerisch – sie zeigt mehr die wienerische Seite des Irrsinns: die versteckte, die „kommode“. Insgesamt fehlt dem weitgehend als stockendes Problemstück zur Atomphysik inszenierten ‚Klassiker’ die schaurige Skurrilität.
Thomas Gabler, Kronenzeitung

Unter den Physikern ist vor allem Peter Uray als Einstein-Imitat zu erwähnen. Da wirkt nichts äußerlich, da ist sehr viel kluge Ausstrahlung und Redlichkeit sogar im Agentengewerbe. Urs Schaub hat mit den Darstellern der kleineren Rollen – Anna Franziska Srna, Elisabeth Gassner, Johanna Mertinz – vorzüglich gearbeitet und für einen reibungslosen Ablauf des grotesk-tragischen Geschehens gesorgt.
Duglore Pizzini, Die Presse

Nicht umsonst feiert Hilde Sochor gerade in dieser Rolle ihr 50-Jahre-Bühnenjubiläum und ihren 75. Geburtstag am Volkstheater. Das bucklige ältliche Fräulein, das sich am Ende als die einzig wirklich Verrückte herausstellt und zumindest die wirtschaftliche Weltherrschaft anstrebt, bekommt durch Sochor Kontur und Schärfe. Ihre Abschlußsuada über die neugegründeten Trusts zur Ausbeutung der wissenschaftlichen Entdeckungen des Physik-Genies kann freilich in Zeiten der Globalisierung nur noch harmlos bis komisch wirken. Rainer Frieb sprang gekonnt für den erkrankten Heinz Petters ein.
Helmut Schneider, Salzburger Nachrichten

Erst jetzt weiß ich es zu schätzen, daß meine Deutschlehrerin mich mit dieser ‚Komödie‘ verschont hat.
Der Falter

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