1995/96
Haupthaus |
Maß für Maß Premiere 10. April 1996 Herzog: Johannes Terne Inszenierung: Beverly Blankenship Ein Herrscher täuscht seine Abreise vor, beobachtet, wie im Märchen, wie sein bisher sittenstrenger Stellvertreter sein Amt zu Erpressung, Verführung und Betrug mißbraucht, und läßt nach einigen Mühen am Schluß die Gerechtigkeit triumphieren. Keine von Shakespeares Komödien ist von vergleichbar illusionsloser Skepsis. Redlichkeit ist hier nichts als Larve für Heuchelei. Selbst das Spiel des guten Herzogs hat etwas von den Allmachtsphantasien eines sadistischen Gottesdarstellers. Am Volkstheater hat Beverly Blankenship diesen illusionslosen Plot in eine nächtliche Welt der Alpträume und Larven gestellt. Ihr Konzept ist feministisch ohne die zugehörige Belehrsamkeit. Im Zentrum der Ereignisse steht der Kampf zwischen Angelo, dem bösen Statthalter und Isabella, die um ihren zum Tod verurteilten Bruder kämpft. Toni Böhm und die weit über sich hinauswachsende Franziska Sztavjanik gestalten Szenen von fulminanter Präzision und Spannung. Johannes Terne, Georg Schuchter, Vera Borek, Hannes Gastinger und Fritz Hammel zeigen das Format eines Luxus-Ensembles.
Dem Lauten, Deftigen und Vulgären ist Ruhe, Klarheit und Reinheit entgegengesetzt. Blankenships Inszenierung verwischt die Grenzen von oben und unten, von Komödie und Tragödie, von sexueller Lust und schlechtem Gewissen. Bewundernswert, was Blankenship aus Schauspielern macht. Ein selten gespielter Shakespeare wurde von Frauenhand so effektvoll und feministisch-engagiert zubereitet, daß das Publikum trotz Überlänge Freude hat. Im weiblichen Feuer schmolz, gleich einem Wachsheiligen, dem als Mönch verkleidet zum Volke abgestiegenen Herzog die Edelmutskontur dahin. Plötzlich war er Fädenzieher in einem grausamen, ja sadistischem Lehrspiel. Die beiden Braven in der Verwaltung, bei Shakespeare Männer, hat Blankenship mit Damen besetzt, beide entzücken mit selbstverständlich gelebter Menschlichkeit. Toni Böhm verkörpert das Böse hinter täuschender Bonhomie-Make: ein teflonbeschichteter österreichischer Bezirkshauptmann. Franziska Sztavjanik ist zum heutigen Durchschnittsmenschen, zum Administrationsopfer reduziert, wie Fritz Hammel als Bruder, um dessen Leben sie kämpft. Die nahe an der Tragödie angesiedelte Komödie kann nicht greifen, wenn die Motivation der Figuren in genau jenem märchenhaften Dunkel bleibt, aus dem sie die Inszenierung in das Licht der Gegenwart holen möchte.“ Beverly Blankenship hat die grausame Komödie um den heuchlerischen Tugendterror der Amtsgewalt als zeitlose Kampfansage gegen den Puritanismus inszeniert. Toni Böhm verleiht dem Angelo durchaus sympathische Züge, Franziska Sztavjanik spielt die monströse Jungfrau, die sich anschickt ihren Bruder am Altar ihrer Unberührtheit zu opfern, ohne jeden Zuckerguß. Auch Johannes Terne als alles beobachtender, bald lebensmüder, bald resoluter Herrscher und Georg Schuchters loser Maulheld sind auf der Habenseite zu verbuchen, während die Strizzis im überzeichneten Wiener Lokalkolorit verblassen. Ohne verkrampte Aktualisierung erfindet die Regisseurin kleine Gesten, setzt den Text – Erich Frieds umgangssprachliche und wortgewaltige Übersetzung – in Bilder um, die neben der oberflächlichen Intrige auch die Tiefen der Charaktere erfassen. In einem Ensemble ohne Schwachpunkte stützt sie sich auf Franziska Sztavjanik als opfermütige Isabella, die berührende Präsenz aufbringt. Johannes Terne spielt den regierungsmüden Herrscher mit ansprechender Selbstironie, er zeigt allerdings auch die eiserne Fraust der Macht. Georg Schuchter gibt den Lüstling mit lustvoller Komödiantik. Der Umgang mit der metaphernreichen Sprache hebt die Inszenierung über weite Strecken auf die Ebene des poetischen Theaters, wie man es in Wien recht selten erlebt. Das Ensemble scheint manchmal mit dem Klassiker überfordert, was groß und ereignishaft angelegt ist, gerät letztlich enttäuschend. Vor allem auch Georg Schuchter als Lucio ist hervorzuheben. Sein intriganter, schleimiger-schmieriger, anpassungsfähiger Opportunist ist die einzig wirklich gelungene "Verwienerung" einer Person des Shakespeare-Stücks. Seine berechnende Wandlugnsfähigkeit, sein Hang zum hemmungslosen "Zündeln" und diffarmierenden "Ausrichten" ist eine regelrechte Entlarvung. Wie Johannes Terne den Herzog spielt, der sich aus egoistischen Gründen von der Macht zurückzieht und dann in der Verkleidung eines einfachen Klosterbruders zu tiefgründigen Erkenntnissen darüber kommt, wie die Menschen wirklich sind, ist beeindruckend. |