1995/96
1996/97
Haupthaus

Der Alpenkönig und der Menschenfeind
von Ferdinand Raimund

Premiere 12. Juni 1996

Astragalus: Rudolf Jusits
Rappelkopf: Wolfgang Hübsch
Sophie: Vera Borek
Malchen: Alexandra Braun
Silberkern: Alfred Rupprecht
August Dorn: Günter Franzmeier
Lischen: Franziska Sztavjanik
Habakuk: Toni Böhm
Sebastian: Alfred Rupprecht
Sabine: Inge Altenburger
Küchengehilfin: Katharina Manker
Glühwurm: Alfred Rupprecht
Marthe: Inge Altenburger
Salchen: Katharina Manker
Victorinens Geist: Katharina Manker
Wallburgas Geist: Inge Altenburger
Emerentias Geist: Gabriela Bruckner

Am Klavier: Otmar Binder
Am Akkordeon: Lukas Goldschmidt

Inszenierung: Michael Gruner
Bühne: Peter Schulz
Kostüme: Astrid Kirsten
Musikalische Leitung: Lukas Goldschmidt
Choreographische Beratung: Jean-Loup Jordan

In Raimunds „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ tritt ein moderner Charakter in die Märchenwelt des Wiener Zaubertheaters. Rappelkopf ist auf der Flucht vor sich und seinen Zeitgenossen, weil er sich und die Zeitgenossen erkannt hat. In ihm hat Raimund seine eigene gespaltene Persönlichkeit bis ins psychologische Detail getroffen. Sein Widerstand gegen die Welt ist ebenso berechtigt wie überzeichnet. Als Kunstfigur kann er Dinge aussprechen, die die Erkenntnisse der Psychoanalyse vorwegnehmen. Er versucht, sich selbst aus der Welt zu schaffen, indem er symbolisch sein Spiegelbild zerschlägt. Aber ein Spiegel ist nicht nur Symbol, die Glassplitter des wirklich zerschlagenen Spiegels schneiden ins Fleisch, und Blut strömt aus Rappelkopfs zerschnittener Hand. Der Realismus dieser Verzweiflungstat erhöht ihre Phantastik; Wahnwelt und Wirklichkeit stoßen zusammen, und es setzt buchstäblich Scherben. Aber statt sich von der Welt tatsächlich zu befreien, trägt Rappelkopf nur eine Schramme an der Hand davon: Diese Parodie einer pathetischen Geste ist die Quintessenz von Raimunds tragischer Komik.
Rappelkopf, der mit aller Welt zerfallene Menschenfeind, setzt die Reihe jener Gestalten und Gestaltungen fort, die von Menander über Shakespeare, Molière und Goldoni schließlich zu Schiller und Raimund führen. Das Problem des sich – ob nun zu Recht oder Unrecht – von seiner Umwelt verfolgt Fühlenden, die Problematik der aus der Gemeinschaft ausbrechenden Asozialen, die oft erlebte Überdankbarkeit jener, denen Wohltat zuteil geworden, ihrem Wohltäter gegenüber, rief in allen Zeitaltern und Regionen nach dichterischer Gestaltung. Der griechische Dichter Menander schuf im vierten vorchristlichen Jahrhundert seine Komödie „Syskolos“, was Menschenfeind heißt. Shakespeare schrieb seinen von grandioser Dämonie durchpulsten „Timon von Athen“ (um 1600), der – nachdem er sich von der Schändlichkeit seiner Freunde überzeugt hat – alle noch einmal zu einem fingierten Festmahl in sein Haus lädt, bei dem nur verdeckte Schüsseln, mit Wasser gefüllt, aufgetragen werden, die er, nachdem alles versammelt ist, seinen Gästen hohnvoll an den Kopf werfen läßt. Molière schuf seinen „Misanthrop“, in welchem er Alceste, den Titelhelden, der mit unabdingbaren idealen Forderungen durchs Leben geht und somit enttäuscht werden muß, sich von der Menschheit in die Einsamkeit zurückziehen läßt. So hat also das 16. und 17. Jahrhundert durch einen englischen und französischen Dichter seinen Menschenfeind der Bühne geschenkt. Nun kam im 18. Jahrhundert Goldoni, der von Voltaire den ehrenden Beinamen eines „italienischen Molière“ erhalten hatte, als Hofdichter nach Versailles und schrieb 1770 – als Dreiundsechzigjähriger – für die Hochzeitsfeierlichkeiten von Marie Antoinette mit Ludwig XVI. seinen „Bourru bienfaisant“, was man etwa mit „wohltätigem Murrkopf“ übersetzen könnte. Goldoni äußert sich in einem Gespräch mit Jean Jacques Rousseau über dieses, sein erstes in französischer Sprache verfaßtes Werk: „Ich hatte das Glück gehabt, in der Natur einen Charakter zu entdecken, der für die Bühne neu war. Einen Charakter, dem man auf Schritt und Tritt begegnet und der noch der Aufmerksamkeit der alten und neuen Dichter entgangen ist. Die Wohltätigkeit ist eine Tugend der Seele, der Jähzorn ein Fehler des Temperaments. Beides vereint sich in einer Person. Nach diesen Grundsätzen habe ich meinen Plan entworfen, und mein „Murrkopf“ – er wurde in späteren Übersetzungen wie Raimunds Hauptgestalt einfach „Rappelkopf“ genannt – wird erträglich, weil er ein Mann von Empfindung ist …“ (Gustav Pichler)

„Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ im Volkstheater:
31. Mai 1890, 15. August 1916, 6. Februar 1931, 21. November 1934, 31. August 1954, 30. Oktober 1974, 10. Jänner 1975, 14. September 1981

http://ferdinandraimund.at/stuecke/alpenkoenig/index.html

 
Pressestimmen

Plötzlich zeigt sich das Stück in völlig neuem, zugegebenermaßen harten Licht. Eine ungewöhnliche Raimund-Auslegung, aber durchaus legitim. Auf jeden Fall eine sehr interessante Produktion.
Wiener

Mit bemerkenswerter Konsequenz durchgezogen, realisiert Gruner (gegen jegliche Raimund-Tradition) die dunkle Seite des Dichters, bringt rabenschwarze Melancholie bis Nihilismus auf die Bühne, erlaubt keinen Lacher. Möglicherweise hat er das Stück auf die Bühne gebracht, das Raimund selbst gerne geschrieben hätte ...
Volksblatt

Eine Demontage des romantisch-komischen Zaubermärchens, dem mit deutscher Gründlichkeit der Zauber ausgetrieben wird. Raimund hat’s nicht verdient ...
Kronenzeitung

Den Amputationen am Werk, die Gruner in finster entschlossener Verbesserungsabsicht vornimmt, fällt nicht nur die Poesie zum Opfer, auch die Geisterwelt, selbst die Originalmusik müssen dran glauben. Ein Mißverständnis.
Die Presse

So einfach ist es, wenn man es kann. Michael Gruner hat den Text genau gelesen, die Dialoge ein wenig gestrafft und ein Briefzitat voran gestellt. Er hat sich von Grillparzer sagen lassen, daß der Rappelkopf ein Raimundsches Selbstportrait ist. Er hat sich vom Text sagen lassen, daß man das Märchen nicht glauben muß, daß die Menschen besser werden. Und er nahm eine der schwarzen Bühnenboxen von Peter Schulz Und das Spiel kann beginnen: „Ich habe diese Welt bis zum Ekel durchschaut.“
Der Standard

Eine Stimmung sanfter Ironie begleitet das Geschehen. Das ändert sich jäh, wenn Rudolf Jusits als Alpenkönig schneidend scharf dem Gutsbesitzer vorführt, wie schlimm er sich seiner Familie gegenüber benimmt. Jusits zeigt als Rappelkopfs Alter ego mit schauspielerischer Brillanz besessene Unduldsamkeit und Bösartigkeit."
Täglich Alles

Gruners Inszenierung überzeugt, bei fallweisen Einwänden, durch die Klugheit der Konzeption. Zwischen Gut und Böse gibt es plötzlich viele Facetten. Im Haus Rappelkopf hat sich eine Dienstboten-Kaste von nestroyscher Bösartigkeit eingenistet (exzellent: Toni Böhms Habakuk, Franziska Sztavjaniks Lieschen) Auch die Familie, virtuos in den labilen Zustnd am Rande des Nervenzusammenbruchs inszeniert, verharrt nicht in der Opferrolle: Vera Borek, sensationell in ihrer sadomasochistischen Dulder-Attitüde, ist ebenso zum Fürchten wie Günter Franzmeier als latent brutaler Schwiegersohn in spe. Wolfgang Hübsch (Rappelkopf) und Rudolf Jusits (Alpenkönig) sind ein gespenstisches Zwillingspaar – Angstgestalten aus der Tiefe der Seele.
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